Vor einigen Wochen veröffentlichte die AKJ auf ihrer Website einen Artikel mit der Überschrift Nein zu digitalen Wahlen! Anstoß dafür waren die Äußerungen des ehemaligen Hertha-Funktionärs Klaus Brüggemann, die in dem Beitrag umfänglich dargestellt werden.
Schon seit einigen Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema digitale oder genauer gesagt hybride Mitgliederversammlungen und Wahlen bei Hertha BSC. Für mich war der vielfach geäußerte Wunsch von Exil-Herthaner:innen, also Mitgliedern, die nicht in Berlin und Umgebung wohnen, an den Veranstaltungen teilzunehmen, der Anlass.
Da ich die Argumentation des AKJ-Artikels nicht in allen Punkten nachvollziehen kann, und manche Aussagen für unvollständig oder falsch halte, habe ich einen längeren Kommentar verfasst, den ich zur besseren Lesbarkeit und Archivierung auch hier in meinem Blog veröffentliche.
Mein Wunsch ist, dass wir im Verein gemeinsam nach Möglichkeiten suchen, die demokratische Teilhabe zu verbessern, und die Bedürfnisse der steigenden Anzahl von Mitgliedern zu berücksichtigen. Dabei sollten auch Regelungen und technische Möglichkeiten eingehend geprüft werden, die bei der Erstellung der bisherigen Satzung noch keine Rolle gespielt haben, oder schlicht nicht zur Verfügung standen.
Und damit hier zu meinem Kommentar.
Replik auf den Artikel „Nein zu digitalen Wahlen!“
Den Ausführungen über Klaus Brüggemann stimme ich vollumfänglich zu. Doch unabhängig davon besteht ein vielfach geäußerter Wunsch von Mitgliedern, die nicht in Präsenz an der Mitgliederversammlung teilnehmen können, dennoch digital dabei zu sein und ihre Mitgliedsrechte – einschließlich der Wahl – wahrzunehmen. Eine digitale oder, genauer gesagt, hybride Wahl könnte, wie im Beitrag erwähnt, eine ‚sehr gute Idee‘ sein. Leider folgen in der Argumentation gegen digitale Abstimmungen dann jedoch einige Punkte, die ungenau oder falsch dargestellt werden. Eine Auseinandersetzung mit Sachverhalten, wie digitale Wahlen den demokratischen Prozess möglicherweise verbessern können, findet überhaupt nicht statt. Daher möchte ich einige Punkte aufgreifen, richtigstellen und ergänzen.
Falsche Vergleiche mit staatlichen Wahlen
Der Artikel verweist auf den Chaos Computer Club (CCC) und dessen Kritik an in Deutschland eingesetzter Wahlsoftware. Dies ist jedoch ein Strohmannargument. Der CCC fordert keine Abschaffung von Software bei Wahlen, sondern vielmehr deren Transparenz. Zudem geht es in der Kritik des CCC nicht um digitale Wahlen, sondern um die elektronische Auszählung bei Präsenzwahlen. Wer mit staatlichen Wahlen argumentieren möchte, darf funktionierende Beispiele wie Estland nicht ignorieren. Dort gibt es seit Jahren ein sicheres und etabliertes Online-Wahlsystem. Ein umfassender Bericht dazu findet sich etwa unter Golem.de.
Ebenso ist eine Wahl in einem Verein weniger mit staatlichen Wahlen, sondern vielmehr mit denen in privatwirtschaftlichen Unternehmen vergleichbar. Hier sind digitale Wahlen spätestens seit der Pandemie üblich. Verschiedene Firmen bieten mittlerweile Softwarelösungen an, die den Anforderungen demokratischer Wahlen gerecht werden und beispielsweise auch von Aktiengesellschaften genutzt werden, bei denen oft weitaus mehr Menschen abstimmen als auf einer Hertha-Mitgliederversammlung.
Rechtliche Situation: Digitale Wahlen sind nicht verboten
Ein weiteres genanntes Argument gegen digitale Wahlen ist deren angebliche rechtliche Unzulässigkeit in Deutschland. Das ist so nicht korrekt. Online-Wahlen sind bei politischen Wahlen in Deutschland nicht grundsätzlich verboten. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil (BVerfG, 2 BvC 3/07) lediglich hohe rechtliche Hürden formuliert, die beachtet werden müssen. Dass dies jedoch möglich ist, zeigt das Beispiel Estland, wo digitale Wahlen rechtssicher durchgeführt werden.
Fehlgeleitete Sicherheitsbedenken
Der Artikel verweist auf Sicherheitsrisiken digitaler Wahlen. Natürlich sind Sicherheitsaspekte wichtig, doch moderne Technologien bieten mittlerweile ein hohes Maß an Schutz. Anders als im AKJ-Artikel dargestellt, könnten digitale Wahlen sogar die Erkennung und Verhinderung von Manipulationen erleichtern. Verifizierbare Wahlprotokolle ermöglichen es den Wählern beispielsweise, ihre abgegebene Stimme zu überprüfen, ohne das Wahlgeheimnis zu gefährden. Auch Server-Abstürze als Gegenargument anzuführen, ist irreführend – die genannten Softwarelösungen werden von Unternehmen mit zehntausenden bis hunderttausenden Wählern genutzt und sind entsprechend robust.
Mängel bei Präsenzwahlen
Die romantische Verklärung des bisherigen Wahlverfahrens ist der Sache nicht dienlich. Wer in den vergangenen Jahren an Hertha-Mitgliederversammlungen teilgenommen hat, weiß, dass dort Unregelmäßigkeiten an der Tagesordnung sind. Wahlunterlagen werden nicht konsequent eingesammelt, Wahlhelfer akzeptieren, dass eine Person mehrere Wahlzettel einwirft, und manche Mitglieder reichen ihre Stimmzettel weiter, bevor sie die Veranstaltung verlassen. Manipulationen sind also keineswegs auf digitale Wahlen beschränkt.
Demokratische Legitimation und Teilhabe
Präsenzveranstaltungen bieten eine wichtige Plattform für den direkten Austausch, können aber auch die Dominanz bestimmter Gruppen fördern. Hertha BSC hat leidvolle Erfahrungen damit gemacht, dass Wortbeiträge mit abweichender Meinung lautstark niedergebuht und unterdrückt wurden. Eine faire Diskussion, in der Argumente ausgetauscht werden, fand nicht immer statt. Bei der Abstimmung über die Stadionstandort-Frage wurden Mitglieder, die nicht im Sinne bestimmter Gruppen abstimmen wollten, sogar bedroht.
Demokratie bedeutet, dass jedes Mitglied wählen darf. Die Behauptung, dass nur Mitglieder mit „direkter Verbindung zum Vereinsgeschehen“ mitbestimmen sollten, ist nicht demokratisch.
Wichtig ist dabei, dass eine digitale Wahl niemanden zwingt, sich ausschließlich online zu beteiligen. Auch hybride Modelle – also eine Kombination aus Präsenz- und Online-Wahl – sind denkbar, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Mitglieder gerecht zu werden.
Ebenso wenig bedeutet eine digitale Wahl, dass Mitglieder die Versammlung nicht verfolgen müssten. Wahlgänge werden im Rahmen der Tagesordnung eröffnet und geschlossen – wer das Geschehen nicht aktiv verfolgt, wird also höchstwahrscheinlich den Wahlgang verpassen.
Andererseits kann auch schon heute jedes anwesende Mitglied abstimmen, ohne aktiv der Debatte zu folgen. Die Entscheidung, ob man sich intensiv mit den Argumenten auseinandersetzt oder nicht, liegt immer beim Einzelnen – unabhängig vom Wahlverfahren.
Fazit: Mehr Demokratie wagen
Digitale Wahlen sind keine perfekte Lösung – Sicherheitsbedenken und mögliche Manipulationsrisiken sind ernst zu nehmen und dürfen nicht leichtfertig beiseitegeschoben werden. Doch über allem steht die Frage, wie die demokratische Teilhabe verbessert werden kann. Das derzeitige Präsenzwahlverfahren ist keineswegs fehlerfrei und schließt viele Mitglieder faktisch von der Mitbestimmung aus.
Der entscheidende Punkt ist also nicht, ob digitale Wahlen vollkommen risikofrei sind – sondern ob es Wege gibt, Sicherheitsbedenken auszuräumen und Manipulationsmöglichkeiten auszuschließen. Wenn dies gelingt, können digitale Wahlen eine sinnvolle Option sein, um mehr Mitgliedern die Ausübung ihrer Rechte zu ermöglichen und damit die demokratische Legitimation der Vereinsentscheidungen zu stärken. Anstatt den Status quo zu verklären, sollte die Diskussion daher konstruktiv geführt werden: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit eine digitale Wahl eine faire, transparente und sichere Alternative darstellt? Welche anderen Möglichkeiten könnte es geben, mehr Mitglieder zu beteiligen? Wer wirklich für Demokratie eintritt, sollte sich diesen Fragen nicht verschließen.